Das Schreiben spielt im Beruf eine bedeutende Rolle, besonders in der Wissenschaft. Im Rahmen eines akademischen Wettbewerbs entstand der folgende Text, der zu mehr Kreativität innerhalb des ethnologischen Schreibens aufruft und die von mir entwickelte ethnopoetischen Theorie der empfindsamen Wissenschaft vorstellt.
(von Andrea Beutlhauser 2013)
Wenn man doch ein Indianer wäre,
gleich bereit,
und auf dem rennenden Pferde,
schief in der Luft,
immer wieder kurz erzitterte
über dem zitternden Boden,
bis man die Sporen ließ,
denn es gab keine Sporen,
bis man die Zügel wegwarf,
denn es gab keine Zügel,
und kaum das Land vor sich
als glattgemähte Heide sah,
schon ohne Pferdehals und Pferdekopf.
Franz Kafka: "Wunsch, Indianer zu werden"
(Kafka 2006 [1913]:58)
Wissenschaft und Schreiben gehören seit je her unverbrüchlich zusammen. Denn wie anders können Zielsetzungen und Forschungsergebnisse idealerweise festgehalten, präsentiert oder der Scientific Community mitgeteilt werden? Im Beruf des Ethnologen nimmt das Schreiben einen besonderen Stellenwert ein: Nach den Aufenthalten im Feld verarbeitet er seine (manchmal durchaus persönlichen) Notizen und Beobachtungen zu strukturierten wissenschaftlichen Texten, die dem hehren Anspruch von Wahrheit über fremde Welten und ihre Bewohner genügen wollen. Doch wie steht es um den Anspruch an das Schreiben selbst, an den kreativen Akt des Schaffens von (ethnologischer) Literatur? Was ist mit der Lesbarkeit und Verständlichkeit solcher – häufig in komplexer Fachsprache abgefasster – Texte, auch für Nicht-Wissenschaftler? Der Ethnologe Hans Fischer beklagt in diesem Zusammenhang, wie wenig in der eigenen Disziplin das Problem diskutiert würde, ob solch eher spröden Berichte oder Darstellungen tatsächlich neue Erkenntnisse und Informationen über das Leben von Menschen, über fremde Völker und Kulturen erbrächten, ja, ob wissenschaftliche Ergebnisse in ihrer Fachsprache überhaupt zu allgemeinem Wissen werden und praktisch anwendbar sein könnten (Fischer 2003:234f).
Darüber hinaus müsse sich – wie der Literaturwissenschaftler Michael Fisch meint – die deutschsprachige Ethnologie kritisch fragen, warum es ihr, trotz fachlicher Krise in den 1970/80er Jahren und programmatischer Neu-Ankündigungen, noch immer nicht gelungen ist, „den eigenen Wirkungsradius zu vergrößern. Wer liest heute ein ethnologisches Buch? Wer interessiert sich aus rein ethnologischer Sicht für fremde Kulturen?“ (Fisch in einem Essay zu Hubert Fichte 2001:63f). Dem sei noch meine Frage hinzuzufügen, wie es sein kann, dass Claude Lévi-Strauss’ Klassiker der Ethnologie „Traurige Tropen“ (Tristes Tropiques), entstanden 1955, bis heute zu den wissenschaftlich gelungensten, meist verkauften und häufig gelesensten Büchern des Faches zählt, obgleich es sogar als sogenannte literarische non-fiction für den renommierten französischen Literaturpreis „Prix Goncourt“ vorgeschlagen und (über die Grenzen der Ethnologie hinaus) als grundlegendes Werk der ethnologischen Literatur, der Ethnopoesie, gefeiert wurde? Wie also sieht die Zukunft des ethnologischen Schreibens aus, jener für den Forscher stets spannungsgeladenen Beziehung zwischen ethnographischen Erfahrungen und deren literarischer Umsetzung?
Diesen vielfältigen Fragen hat sich meine 2012 (an der Philipps-Universität Marburg im Fach Völkerkunde) vorgelegte Dissertation „Dels Geschichte – Kann ein ethnopoetischer Roman die Lakota-Indianer Nordamerikas beschreiben?“ nicht nur theoretisch zu stellen versucht und damit einen im üblichen Wissenschaftsbetrieb ungewöhnlichen Weg eingeschlagen: Die Promotionsschrift besteht größtenteils aus einem von mir verfassten poetischen Text in Romanform, ohne Fußnoten und Quellenangaben, in dem die fiktive Hauptfigur, der junge Lakota Deloria „Del“ Running Horse, aus der Ich-Perspektive von seinem Leben auf einer Indianer-Reservation in South Dakota/USA berichtet. Zahllose indianische Verwandte und Freunde, historische Personen, Tiere, mythische Wesen und Geister bevölkern den Roman, in welchem sich Zeit- und Raumebenen erzählerisch bewusst auflösen. Ein begleitender, jedoch separater Kommentar stellt die Geschichte der Ethnopoesie, ihre Vertreter und fachliche als auch literarische Randfiguren der Thematik Poesie in der Wissenschaft vor. Zudem wird ein Überblick gegenwärtiger indianischer Literatur der USA gegeben, deren Autoren ich als indigene, schreibende Gewährsleute einer ehemals rein mündlichen Kultur bezeichnen möchte. Weiterhin geht der Kommentar ausführlich auf die Bedeutung des poetischen Schreibens in der Wissenschaft ein; dies wird explizit an einigen Beispielen aus dem Dissertationsroman „Dels Geschichte“ erläutert, wobei es hier allerdings nicht darum ging, den Roman zu erklären, denn: Seine ethnologischen Inhalte sollen sich im besten und gewünschten Falle selbst dem Leser und damit auch einem breiteren Publikum erschließen.
Meine von Prof. Dr. Mark Münzel betreute Dissertation hat fachlich sowohl positive Reaktionen als auch scharfe Kritik ausgelöst. Nicht zuletzt deshalb glaube ich, bezüglich der oben genannten Meinung Hans Fischers zur wenig stattfindenden Diskussion um die Zukunft des Schreibens in der Wissenschaft einen kleinen Beitrag geleistet zu haben, da gerade in diesem Zusammenhang interdisziplinäre Streitfragen um Wahrheit und Dichtung, Fakten und Fiktion, (wieder) kontrovers diskutiert werden. Denn wer stellt die Regeln auf, was Wahrheit und was Dichtung ist? „Am Anfang war Dichtung Wissen gewesen“, sagt der Literaturwis-senschaftler Heinz Schlaffer, und erst nach der Auflösung dieser Verbindung „konnte die Wissenschaft von der Dichtung entstehen“ (Schlaffer 2005:234), deren ja ursprünglichem Wahrheitsgehalt sie nun – mit eigens entwickelter Fachsprache – zweifelnd begegnet, so wie es auch die Ethnologie mit fremden Kulturen und ihren mythischen Erzählungen tut. Obgleich schon im 18. und 19. Jahrhundert reisende Forscher poetische Literatur in Form von Tagebüchern und Berichten verfassten, welche im anglo-amerikanischen Raum letztlich ihren Widerhall in ethnographischer Literatur, der Writing Culture, fanden, stehen die geistes-wissenschaftlichen Disziplinen in Deutschland bis heute dem kreativen Wandern zwischen den Grenzen von Literaturwissenschaft, Ethnographie und Ethnologie eher zurückhaltend oder gar ablehnend gegenüber.
Dabei kann gerade ein Essay, wie der Ethnologe Clifford Geertz befand, das geeignete Mittel sein, kulturelle Interpretationen literarisch darzustellen (Geertz 1987:36). Dies gilt meiner Meinung nach ebenso für einen Roman, denn wie anders als poetisch schreibend lassen sich letztendlich Gefühle von Trauer und Verlust ausdrücken, etwa wie sie Claude Lévi-Strauss in seinen Tristes Tropiques schmerzlich angesichts der zerfallenden Kulturen Amerikas empfunden hat? Die (Lebens-)Geschichten der Lakota-Indianer in den USA sind überreich an tristen Erfahrungen: Identitätsverlust, Landraub, Armut, Arbeitslosigkeit, Alkoholismus, Kriegstraumata und Perspektivlosigkeit. Aber sie stecken auch voller Mythen, Geister, Tänze, Träume und grandiosem Humor. Gegen das Vergessen all dieser kulturellen Elemente und ihrer Zusammenhänge wollte der Roman „Dels Geschichte“ anschreiben, und dabei ist besonders Claude Lévi-Strauss’ „Wildes Denken“ ein Basisgedanke der Dissertation gewesen; denn „wild ist das Denken, weil es keinen vorschreibbaren Pfad geht, weil es spielerisch ist und experimentierfreudig“ (Göttler 2009:13).
Im Sinne von Lévi-Strauss habe ich das Schreiben der Dissertation, vor allem das Erstellen des ethnopoetischen Romans über die Lakota, als Schreibspiel und Experiment innerhalb der Wissenschaft bezeichnet. Die Durchlässigkeit von Poesie und Ethnologie – jenes fast magische Wandern des Dichters zwischen den realen und fiktiven Welten – bildet meiner Meinung nach den Grundgedanken des ethnopoetischen Schreibens. Die durch diese Methode entstehende Literatur verwendet eben nicht scheinbar unausweichliche Fachbegriffe einer manchmal in Routine erstarrten Wissenschaft, sondern erschafft in der poetischen Auseinandersetzung mit dem Fremden stets eine neue Sprache und mit ihr neue, unbekannte Denkräume, welche wiederum (schreib-spielend) erforscht werden können. Das ethnopoetische Schreiben beinhaltet zudem die Methode des Perspektivwechsels: Einem Feldforscher gleich blickt der ethnologische Dichter zunächst von außen auf das Geschehen und die Menschen, und wie ein guter Feldforscher beharrt er nicht auf einer distanziert-kühlen Sichtweise, die ihm vermeintlich faktische Erkenntnisse vermitteln kann, sondern er versetzt sich mithilfe der bewussten und konsequenten Schreib-Umkehrung des subjektiven Blickwinkels in die Position der Betrachteten. Dieser ethnopoetische Perspektivwechsel bedeutet ganz und gar nicht, sich als Ethnologe nun selbst zu beschreiben – er soll bestenfalls empfindsam von innen, inmitten jener durch Umkehrung entstandenen Fremdheit, auf sich und vor allem auf die Anderen blicken.
Das Schreiben ist also Machen, wie es sich der Ethnologe und Poet Hubert Fichte wünschte, eine Neu-Erfindung der bereits bestehenden Welt, mit vielleicht ungewöhnlichen Begriffen und Wörtern – eine wahrhaft poetische Vorgehensweise, die den ursprünglich mündlichen Kulturen möglicherweise manchmal leichter fällt als dem in Fach-Sprache verhafteten, über jene fremden Menschen schreibenden Forscher. Wenn man etwa Neu-Erfindungen betrachtet wie das Inuit-Wort für „Internet“: Ikiaqqijjuti oder Ein Schamane reist durch eine andere Dimension der physischen Welt, so mag selbst der westliche Leser in diesem bildreichen Wort die magische, mit wenigen Worten kaum erklärbare Komplexität des Internets nachempfinden können. Der schöpferisch-kreative Akt des poetischen Schreibens in der Ethnologie wiederum besteht meiner Ansicht nach nicht in der Herstellung einer künstlichen Einheit, sondern in der gewollten Vereinbarkeit der Gegensätze, so verblüffend sie zunächst erscheinen kann. Dieser ästhetische Zugang ist wohl die große Chance der Ethnologie und führt hoffentlich zu einem empfindsamen Nachdenken über die (fremde) Welt, an welcher der Leser als Zuschauer und Angesprochener wahrhaftig teilnehmen kann.
Die kritische Frage der Wissenschaft, ob nun faktisches Wissen mit fiktiver Literatur methodisch verschmolzen werden darf – denn möglich ist es ja durchaus und im Roman „Dels Geschichte“ so geschehen –, kann wohl letztendlich niemand zufriedenstellend beantworten. Wichtiger erscheint mir die Frage nach dem, was jene Methode der Ethnopoesie für das Fach erreichen kann? Was bringen Schreibspiel und die damit verbundene Durchlässigkeit von Poesie und Ethnologie, der Perspektivwechsel, die Neu-Schaffung von Sprache und Welt in Bezug auf das Fremde? Die Wissenschaft will Wahrheiten vorlegen, tut die (ethno-poetische) Literatur dies etwa nicht, bleibt sie am Ende also nur eine Phantasie, ein Märchen? Wieder muss man fragen: Wer bestimmt die Regeln? Der Autor Bernhard Schlink erklärt dazu in seinen Heidelberger Poetikvorlesungen „Gedanken über das Schreiben“, dass es „eigentlich nicht um das Genre gehen [kann], nicht um die Dokumentation im Unterschied zur Fiktion, nicht um diese Art von fiktionaler Literatur im Unterschied zu jener. Es muss ihr um Authentizität in einem tieferen Sinne gehen“ (Schlink 2011:11).
Die Ethnopoesie mit ihren empfindsamen Schreib-Methoden des Hineinversetzens in den Anderen, dem Wechsel des Blickwinkels und der kraftvollen Magie der Sprache kann Authentizität erreichen, nebst Fehlern und Irrtümern, wie sie alle traditionellen Herangehensweisen der Wissenschaft ebenso erzeugt haben – und doch mag sie vielleicht mehr als jene Methoden den zu beschreibenden Menschen in den Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit stellen, ihn loben, ihm ein Gesicht und Gefühle (wieder-)geben, seine Welt neu schaffen und in diesen Denkräumen forschend umherreisen, ja, eine angemessene, dichte Beschreibung ermöglichen, so wie es im Dissertationsroman „Dels Geschichte“ beispielhaft versucht wurde.
Was ich beim Schreiben der Dissertation festgestellt habe: Der ethnopoetische Autor wird achtsam einen Fuß vor den anderen setzen müssen auf dem schwankenden Seil zwischen Wissenschaft und Poesie, aber er kann doch nur so schreibspielend das imaginäre Denkräume bereisen und einen andersartigen Entwurf von Wirklichkeit erstellen. Eine wünschenswerte Folge dieser Form des Schreibens in der Ethnologie wäre, wie ich meine, die Entwicklung einer empfindsamen Wissenschaft. Denn ist es nicht am Ende genau das, was wir Ethnologen tun möchten, Geschichten über fremde Menschen erzählen und niederschreiben: Geschichten voller Brüchigkeiten und Ironie, Humor und Traurigkeit, Ödnis und Imagination? Vielleicht kann diese empfindsame Wissenschaft neuartige Fragestellungen innerhalb der Disziplin aufwerfen und eine breitere Öffentlichkeit für die Ethnologie und vor allem für ihre Beschreibungen fremder Menschen gewinnen.
Copyright© Andrea Beutlhauser 2013
LITERATUR:
Fisch, Michael: Von der Sprache der Wissenschaften und der Fundierung des Poetischen bei Hubert Fichte: 23-67. In: Fichte, Hubert: Ketzerische Bemerkungen für eine neue Wissenschaft vom Menschen. Rede in der Frobenius-Gesellschaft, Frankfurt am Main, am 12. Januar 1977. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 2001
Fischer, Hans: Randfiguren der Ethnologie. Gelehrte und Amateure, Schwindler und Phantasten. Berlin: Dietrich Reimer Verlag 2003
Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag 1987
Göttler, Fritz: Keiner rechnet so genau wie der Wilde. Ein Wanderer auf Nebenpfaden, immer in der Mitte der Gesellschaft: Zum Tod des Ethnologen Claude Lévi-Strauss. In: Süddeutsche Zeitung 05.11.2009:13
Kafka, Franz: Betrachtung. Leipzig 1913. Hrsg. v. Joseph Kiermeier-Debre. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2006[1913]
Schlaffer, Heinz: Poesie und Wissen. Die Entstehung des ästhetischen Bewußtseins und der philologischen Erkenntnis. Erweiterte Ausgabe. Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag 2005
Schlink, Bernhard: Gedanken über das Schreiben. Heidelberger Poetikvorlesungen. Zürich: Diogenes Verlag 2011