Diese Kurzgeschichte entstand erst eine Weile nach dem Schreiben meines Dissertationsromans "Dels Geschichte". Die Story sowie die Figuren stammen aus dem Roman. In dem folgenden Text ging es aber darum, eine bestimmte Schlüsselszene nochmals detaillierter zu beschreiben. So können Leser auf wenigen Seiten einen Eindruck bekommen, worum es im Roman geht. Hanhepi ist übrigens ein Wort aus der Lakota-Sprache und bedeutet Nacht. Wer sich also für Ethnopoesie, Geister, nordamerikanische Indianer und crazy Typen interessiert, kann hier gerne mal reinlesen!
(von Andrea Beutlhauser 2013)
Das Klingeln des Telefons durchschnitt meinen Schlaf in zwei saubere Hälften. Das letzte Traumbild war die verschwommene Gestalt eines Jägers gewesen, die mit einer einzigen geübten Handbewegung ein Messer in den Hals einer fliehenden Antilope stach. Blut schoss aus der Wunde, der Mann wischte sein hohumila, das lange, aus Knochen geschnitzte Messer der Lakota-Indianer, an den dürren Präriegrashalmen ab, und kniete neben dem Tier nieder, dessen Flanken sich noch zitternd hoben und senkten. Ich streckte den Arm aus und tastete nach dem Wecker neben dem Bett. Die grünen Leuchtziffern verkündeten gleichmütig die Uhrzeit: 4.37.
„Jesses“, murmelte ich. Mein Dienst begann erst um sieben, also in etwas mehr als zwei Stunden, und trotzdem konnte ich sicher sein, dass am anderen Ende der Telefonleitung Jane Falls Apart sitzen würde, gemütlich kaffeetrinkend und unerträglich wach. Seit Jahren hegte ich den Verdacht, dass Jane sich niemals in ihrem Haus am Rande der Reservation aufhielt (wo immerhin ein Mann und drei Kinder auf sie warteten), sondern in Wirklichkeit im Büro der Stammespolizei lebte, denn es gab keinen Tag oder keine Nacht in den letzten Jahren, wo ich sie nicht dort angetroffen hatte. Selbst wenn ich völlig überraschend in der Funkzentrale auftauchte, hockte sie stets auf ihrem Stuhl, die Kopfhörer schief über die Ohren gezogen, und mich gut gelaunt aus diesen hellwachen Augen anblickend.
Und natürlich war es Jane, deren Stimme sich anhörte, als wäre sie seit Stunden voll auf dem Posten.
„Hi, Darling“, sagte sie. Niemand nannte mich Darling, nicht mal meine Frau. Nur Jane. Es hatte mich vergebliche Anstrengungen gekostet, ihr dieses Gerede auszutreiben.
Ich ächzte. „Was gibt’s?“
Jane ließ einen Kaugummi nahe an meinem Ohr platzen. „Ein Toter am Fluss unten. Tom Standing Bear hat angerufen.“ Erneutes Knallen.
Mein Ohr schmerzte. „Tom?“
„Ja, er hat für den Marathon trainiert.“ Jane kicherte. „Irre, was? Mitten in der Nacht. Im Januar.“
Tom Standing Bear war ein alter Vietnamveteran und Ex-Alkoholiker, der den Schwarzen Pfad des Whiskeys verlassen hatte, um auf dem richtigen, indianischen Weg, dem Roten Pfad, zu wandeln – er rannte ständig am Fluss entlang, und ich war insgeheim davon überzeugt, dass er nur deshalb Marathon trainierte, weil er immerzu vor den Gespenstern des Dschungels weglaufen musste, den Toten und Sterbenden, den Schreien und Schmerzen. Die meisten Leute auf der Reservation hielten ihn für witko, durchgeknallt.
„Okay“, sagte ich müde. „Hast Du Danny informiert? Und den Chief?“
Jane trank schlürfend einen Schluck Kaffee. „Ja. Danny wartet auf Dich. Der Chief geht nicht ans Telefon, tut mir leid. Schläft wie ein Bär im Winter. Soll ich’s später noch einmal versuchen?“
Ich schüttelte den Kopf. „Nein. Ich rufe ihn selbst an, wenn wir da sind. Wo ist es genau?“
„An der alten Furt, unter der Brücke, Nordseite. Tom ist dort geblieben. Er war ziemlich durcheinander“, erklärte Jane und biss krachend in irgendein Gebäck, vermutlich war es ein Donut mit doppelter Zimt-Schokoglasur und regenbogenfarbigen Liebesperlen, ihre absolute Lieblingssorte.
„Iss nicht soviel Schokolade, Jane“, sagte ich und grinste. „Nicht mehr der weiße Mann, sondern Diabetes ist heute Feind Nummer Eins aller Indianer. Und fett wird man auch noch davon.“
Jane schnaubte. Ich konnte die Liebesperlen in alle Richtungen fliegen sehen. „Du musst es ja wissen, Mel Two Face“, flötete sie mir ins Ohr und schmiss den Hörer auf.
Danny Waziyata hatte wohl schon eine Weile vor der Tür seines Wohncontainers gestanden, als ich in die Einfahrt einbog. Schneeflocken bedeckten sein schwarzes Polizei-Basecap, und er sah ziemlich mies gelaunt aus.
„Endlich“, knurrte er und ließ sich auf den Beifahrersitz fallen. Mehr sagte er nicht, aber das war nicht weiter ungewöhnlich. Danny und ich fuhren seit sieben Jahren zusammen Streife auf der Reservation, und meine Frau meinte oft, wir wären wie ein altes Ehepaar. Ich trat aufs Gaspedal und der Wagen schoss schliddernd über die gefrorene Schotterpiste.
„Musst Du so fahren? Der Typ ist ja wohl schon tot!“ Danny starrte durch die beschlagene Windschutzscheibe. Meine Frau hatte Recht. Wir waren ein altes Ehepaar. Wahrscheinlich hatte Danny mich schon fünfhundertmal gefragt, ob ich so fahren musste.
Ich tat so, als hätte ich nichts gehört (wie bei den letzten fünfhundert Malen). „Findest Du mich eigentlich fett?“ fragte ich.
Danny antwortete nicht, schob aber grinsend seinen Kaugummi von einer Backe in die andere. Die bemerkenswert glatt aussah. Ich schielte zu ihm hinüber.
„Wann hast Du Dich rasiert?“ wollte ich wissen.
„Vorgestern“, meinte Danny ungerührt.
„Nicht zu fassen. Irgendwas stimmt wohl nicht mit meinen Genen. Kein Vollblutindianer rasiert sich jeden Tag! Nur ich!“ Seufzend strich ich mir über die Bartstoppeln am Kinn.
Die ganze restliche Fahrt über sprachen wir kein Wort mehr. Schneeflocken rieselten müde vom Himmel, und ich hatte Mühe, das schlingernde Auto in der Spur zu halten. Als wir die Stelle erreichten, die Jane mir am Telefon genannt hatte, sah ich schon von weitem Tom Standing Bear an der Brücke stehen. Das weiße Licht der Scheinwerfer tastete seine dürre Gestalt unbarmherzig ab: die schreiend bunten und viel zu großen Joggingklamotten, das zerfurchte Alkoholikergesicht unter dem grausträhnigen Haar. Um die Stirn hatte er sich eine runde Lampe gebunden, die mich wie ein kaltes Geisterauge anglotzte.
Wir stiegen aus dem Wagen. „Morgen, Tom“, sagte ich. Danny nickte nur.
„Mel, Danny.“ Toms Stimme war kaum zu hören. Er zitterte am ganzen Leib.
„Frierst Du?“ fragte ich. Danny warf mir einen schrägen Blick zu. Blöde Frage, Partner. Es war lausig kalt, und Tom schien total fertig zu sein – als ob ihm ein Dämon begegnet wäre. Außerdem waren seine Hosenbeine völlig durchnässt. Was hatte der alte Mann bloß gemacht?
Tom klapperte mit den Zähnen. „Ich glaube schon...“
„Okay“, sagte ich. „Hol ’ne Decke aus dem Wagen, Danny.“ Dann drehte ich mich wieder zu Tom um, der trübe in die Dunkelheit stierte. „Also, Tom, ganz ruhig. Wo ist er?“
„Wer?“ flüsterte Tom.
„Wer, wer, wer“, wiederholte ich genervt. Kapierte der Alte gar nichts? „Na, der Tote, den Du gefunden hast, natürlich. Bist Du überhaupt sicher, dass es ein Mensch ist? Oder nur ein Tier?“
„Ich habe auch einen Kojoten gesehen, Mel“, sagte Tom mit überraschend kräftiger Stimme.
„Einen toten Kojoten?“ fragte Danny und legte dem alten Mann eine Decke über die Schultern. „Nein, nein. Er war wirklich da, lief an mir vorbei, so leise wie ein Geist“, erklärte Tom.
Ich verdrehte die Augen. „Was?“ Dieser Tom Standing Bear hat echt Probleme, dachte ich. Seine Frau Louisa erzählte ja seit Jahren überall auf der Reservation herum, dass er nicht ganz richtig im Kopf wäre – kein besonders netter Zug von ihr – aber so langsam bekam ich richtig Lust, Toms Frau zuzustimmen.
„Alles war voller Blut“, sagte Tom plötzlich zu mir gewandt. „In Vietnam hab ich ’ne Menge Toter gesehen, Junge, aber das...“ Er brach ab und hob die Hände. Jetzt erst sah ich das Blut. Die Ärmel seiner Jacke waren über und über damit beschmiert. „Aber das da unten am Ufer ist schlimmer, weil es hier passiert ist, zuhause. In Vietnam war alles fremd und verrückt, unser Leben dort war kein menschliches Leben. Wir benahmen uns wie Wahnsinnige!“ Er keuchte.
Ich schüttelte mich. Was war hier los? Hatte etwa Tom jemanden umgebracht? Diese jämmerliche Gestalt? „Bleib Du bei ihm“, sagte ich zu Danny. „Und lass ihn bloß nicht aus den Augen, verstanden?“ Danny nickte.
Ich packte meine Taschenlampe und kletterte vorsichtig die Böschung hinunter. Die Erde war gefroren und bot kaum Halt. Einige Male rutschte ich fast aus, konnte mich aber gerade noch am steinernen Mauerwerk der Brücke abstützen. Unten angekommen, ließ ich den Kegel der Lampe über das Ufer gleiten. Nichts. Ich fluchte leise. Was für eine erbärmliche Geschichte, die sich Tom da ausgedacht hatte! Einmal Alkoholiker, immer Alkoholiker. Nichts als Lügen. Ich wollte schon umkehren, als mir einfiel, dass Toms Hosen nass gewesen waren. Er musste durchs Wasser gelaufen sein. Prüfend richtete ich die Taschenlampe auf die kleine Sandbank direkt unter dem zweiten Brückenpfeiler. Tatsächlich. Da lag etwas. Ein schmales Bündel, wahrscheinlich Müll, den jemand illegal entsorgt hatte. Verdammter Mist. Ich zögerte kurz, dann watete ich hinüber. Das Wasser war so kalt, dass sich meine Füße sofort in Eisklumpen verwandelten. Wenn das Ding hier nur ein oller Müllsack wäre, würde ich Tom eigenhändig verprügeln, dachte ich, und in die Arrestzelle verfrachten. Als ich wieder festen Boden unter mir spürte, ging ich in die Knie und betrachtete das Bündel.
Es war kein Müll. Dieses Bündel war ein toter Mensch. Ich registrierte die klaffenden Wunden, die den gesamten Oberkörper bedeckten. Der zerfetzte Kopfputz – es waren Reste eines peša, den man beim Omaha-Dance trägt – war ihm schief über die Augen gerutscht. Der Mann trug ein reich verziertes Tanzkostüm, doch das feine Leder war zerrissen und blutverkrustet. Verdammter Mist, dachte ich wieder. Wer ist das? Ich streifte mir dünne Gummihandschuhe über und schob behutsam den zerknickten Federschmuck höher, damit ich das entstellte Gesicht des Tänzers besser sehen konnte. Erstaunlicherweise war hier trotz der zahlreichen Verletzungen kaum Blut. Ich erkannte den Toten sofort und fluchte. Vermutlich hatte Tom dem Mann das Gesicht gesäubert und damit wichtige Spuren beseitigt. Dieser Idiot. Ich würde ihn auf jeden Fall verprügeln.
Wütend stapfte ich zum Ufer zurück und stieg die Böschung hinauf. Danny und Tom lehnten am Streifenwagen, dessen blaurotes Licht zuckende Blitze auf die schneebedeckte Erde zeichnete.
Danny rauchte eine Zigarette. „Und?“ fragte er.
„Frag ihn“, gab ich zurück und wies auf Tom, der mit hängendem Kopf dastand. „Er wusste es doch die ganze Zeit! Hat er nichts zu Dir gesagt?“
„Er hat nur was von Geistern gebrabbelt“, meinte Danny.
„So eine Scheiße!“ fauchte ich und griff nach meinem Mobiltelefon. Es klingelte elfmal, dann meldete sich Chief Aloysius Dog Man, seit 30 Jahren Leiter der Stammespolizei hier auf der Reservation. Und mein Boss.
„Wer ist da?“ raunzte er. Seine Stimme klang verschlafen und übel gelaunt. Letzteres war total normal und kümmerte mich daher auch nicht weiter.
„Hier Mel Two Face, Chief“, sagte ich. Aloysius grunzte nur. „Danny und ich sind seit etwa einer halben Stunde hier an der alten Furt, Brücke, Nordseite. Ein Toter, unten am Fluss. Männlich, Indianer. Vermutlich Mord. Tiefe Wunden am ganzen Körper, besonders in der Halsgegend. Trägt ein Powwow-Kostüm. Gestern war doch ’ne große Tanzveranstaltung im Gemeindesaal, vielleicht ist er dort aufgetreten. Keine Tatwaffe. Er hat da wohl noch nicht lange gelegen, er ist...“ Ich brach ab und dachte an meinen Traum. Der Jäger hatte das Messer in den Hals der Antilope gestochen, das Tier war in wenigen Augenblicken verblutet. Eine sehr scharfe Klinge...
„Mel!“ Die Stimme des Chiefs drang aus dem Hörer. „Was ist los?“
Ich räusperte mich. „Nichts, ich bin noch da.“ Danny sah mich erstaunt an.
„Wer ist der Tote?“ fragte Aloysius Dog Man. „Hast Du ihn erkannt?“
Tom sagte laut: „Es war Unktehi. Sie hat ihn umgebracht.“
Ich fuhr herum. „Wie bitte?“
„Mel!“ Der Chief hörte sich langsam ganz schön sauer an. „Wer redet da?“
Ich stöhnte. „Es ist Tom Standing Bear, Chief. Also, nicht der Tote...Tom hat ihn gefunden. Er meint gerade, eins der Wasserungeheuer aus den alten Geschichten hätte den Mann getötet.“
„Unktehi?“ Aloysius brüllte jetzt fast. „Ich hab immer gewusst, dass Tom verrückt ist, verdammt noch mal! Wer glaubt denn heute noch an diese Geschichten? Wahrscheinlich war er’s selbst!“
Ich zögerte kurz. „Nein, das denke ich nicht“, sagte ich. „Dafür ist er nicht Manns genug.“
Der Chief knurrte leise. Dann sagte er: „Gut. Jane soll dem Coroner Bescheid geben. Ich bin in zwanzig Minuten da. Ende.“ Es knackte, und die Leitung war tot.
Ich betrachtete noch eine ziemlich lange Weile das grünleuchtende Display meines Mobiltelefons, bis Danny mich vorsichtig am Arm berührte.
„Wer ist der Tote?“ fragte er. „Du hast es dem Chief nicht gesagt, Mel.“
Tatsächlich, dachte ich. Das Wichtigste hatte ich vergessen zu sagen, wahrscheinlich überhaupt das Meiste. Dabei war ich seit neun Jahren Polizist, und dieser Tote war nicht der erste gewesen, den ich gesehen hatte, oh nein. Vielleicht war der Traum von heute Nacht daran schuld. Es gibt Träume und Wahrträume. Ich atmete tief ein und aus.
„Es ist Ben Stars Come Out“, sagte ich. „Mein Cousin.“
Copyright© Andrea Beutlhauser 2013